Prolog
Ich mag keine Sonntage. Sonntage sind zäh und klebrig wie Honig, geeignet für gutbürgerliche Familienausflüge oder für Mütter, die mit ihren Kindern Kuchen backen. Aber was fange ich an solchen Tagen an - ich, ein ungebundener und abenteuerlustiger US-Amerikaner, der bei seiner Hauswirtin in Watertown / NY lebt, 50 Meilen nördlich von Syracuse?! Zwei Zimmer plus Werkstatt im Hinterhof, jede Menge Wasser vor der Haustür - und eine ausgeprägte Schwäche für langbeinige Blondinen und kleine, schnelle Boote. That's it - mehr brauche ich nicht!
Eigentlich sollte heute ein inoffizielles Marathonrennen stattfinden, spontan organisiert, 50 Meilen rund um Wolfe Island. Aber wegen der naßkalten Witterung hatten einige der Jungs Probleme mit den Zündungen ihrer Außenbordmotoren. Immer das gleiche Lied: kaum ändert sich das Wetter, müssen Vergaser neu eingestellt und Kontakte justiert werden. Heute klappt garnichts. Schliesslich verschieben wir das Rennen um eine Woche und ich verziehe mich statt dessen an meinen Küchentisch, bewaffnet mit der neuesten Ausgabe der "Boat Sport" und einer Blechkanne voll schwarzem Kaffee. Dazu schallt der schwarze Blues von B.B. King aus dem Radio - so werden Sonntage erträglich.
Nachmittags gehe ich rüber zu "Buddie's", einer Fahrerkneipe an der Ecke Washington Street, um den Tag bei ein paar Gläsern Budweiser ausklingen zu lassen. Ich hoffe, Chad dort zu treffen. Er hat sich letzten Freitag einen dieser ganz heißen Stock-Racing-Motoren angeschafft, die gold-grüne Wunderwaffe von Mercury, den Mark 20-H Außenborder. Der schnellste B-Klasse-Motor aller Zeiten: 20 Kubikinches Hubraum und eine sensationelle Leistung von weit über 20 PS! Ich brenne darauf, näheres zu erfahren, betrete die Bar, begrüsse ein paar Bekannte - aber Chad ist nicht dort. Also nur ein schnelles Bier an der Theke, dann verabschiede ich mich und beschliesse, noch kurz in Chad's Werkstatt reinzuschauen. Sie befindet sich nur nur zwei Blocks die Straße runter, an der Ecke State Street.
Kapitel 1: Die Bauzeichnung, die es nie gab
Als ich in die Hofeinfahrt trete, sehe ich Chad schon durch das Werkstattfenster in seiner Backyardwerft herum hantieren. Ich klopfe an die schwere Holztür. Keine Antwort, also drücke ich die Klinke herunter. Chad hockt tief versunken an seiner Hobelbank und zeichnet etwas auf einen Bogen Papier. Statt einer Begrüssung schaut er nur kurz hoch und sagt: "Dean, howdy... komm' mal rüber!". Dabei zeigt er mit bedeutungsschwangerem Blick auf seine Zeichnung. Ich trete hinter ihn, schaue auf das Blatt Papier - und traue meinen Augen kaum! Eine Zeichnung der 1951er "Baby Bullet"?! Dieses streng gehütete Erfolgsgeheimnis der Bootsbaufirma SwitzerCraft, ein höchst eleganter Class-B-Racer, souveräner Gewinner des letzten Winnebagoland-Marathons!?
Während ich mich mit angehaltenem Atem in die Zeichnungen vertiefe, zieht Chad für mich einen zweiten Stuhl heran. Ich setze mich neben ihn, nestele eine Lucky's aus meiner Hemdtasche, biete ihm ebenfalls eine an. Nach einem langen, tiefen Zug schaue ich ihm direkt in die Augen: "Wo zum Teufel hast du das her?"
Chad grinst verschmitzt, legt mir seine schwere Hand auf die Schulter, steht schweigend auf und geht rüber zum Kühlschrank. Er kommt mit zwei Dosen Bier zurück, reicht mir eine davon herüber. "Du erinnerst dich an Jamie, den ich vor zwei Jahren beim Albany-New York-Rennen kennen gelernt habe?" Ich nicke gespannt. "Jamie war letztes Jahr mit seinem Eigenbau-Rennboot in Winnebagoland. Du hast es damals sicherlich in der BOATSPORT gelesen: auf den ersten zehn Plätzen waren gleich fünf Baby Bullets vertreten! Alle mit sereinmässigen 10PS Mercury KG7-H am Heck." Bob reisst den Verschluß von seiner Bierdose, nimmt einen Schluck. "Eigentlich wären es sogar sechs gewesen, aber der erstplatzierte Fahrer wurde wegen einer Unregelmässigkeit am Motor nachträglich disqualifiziert. In den Unterlagen stand ein anderer Kolbendurchmesser, darum wurde der Motor nicht mehr als 'unverändert' betrachtet."
Ich verstand nicht, worauf Chad raus wollte. "Ja, ich hab's gelesen - die SwitzerCrafts waren praktisch konkurrenzlos. Und weiter?" - "Jamie, der mit seinem eigenen Boot irgendwo im Mittelfeld landete, war völlig fasziniert von der enormen Überlegenheit der Switzercrafts. Um es kurz zu machen: er hat sich nach dem Rennen auch so einen Racer bauen lassen." Ich pfeife leise duch die Zähne: "Die Dinger sind doch richtig teuer?" - "Ja, stimmt schon... 395 $ für das Boot, plus 45 $ Ausstattung, plus Motor." - "Jamie hat offenbar keine finanziellen Sorgen. Das erklärt aber immer noch nicht, wie du nun an diesen Plan kommst." Es ist in der gesamten Rennszene ein offenes Geheimnis, dass die Brüder Switzer nie eine Zeichnung angefertigt haben, sondern jedes einzelne Boot ausschliesslich nach Schablonen bauen.
Nun lacht Chad laut auf. "Richtig, es dürfte diesen Plan eigentlich garnicht geben. Ok, ich sage dir, was passiert ist. Letzten Monat habe ich Jamie in Ohio besucht und wir haben sein Boot detailliert vermessen. Jeden Spant, jeden Stringer, alles. Ich habe Skizzen gemacht und sämtliche Maße notiert. Seit drei Wochen zeichne ich an den Plänen. Und vorgestern kam mein neuer Mark 20-H beim Händler an - der hat nochmal gute 60% mehr Leistung als die eh schon schnellen KG7-H Mercurys. Kannst du dir vorstellen, was pasiert, wenn dieser Motor eine Baby Bullet antreibt?"
Ich kann - und wie ich kann! Die Vorstellung an diese Kombination verschlägt mir den Atem: "Du willst also wirklich eine Baby Bullet selberbauen? Für deinen neuen 20-H?" Bob nickt vielsagend. Ich schaue ihn mit offenem Mund an: "Du weisst, dass ich dann mit meiner Atomite nicht mehr die geringste Chance gegen dich haben werde?". CHad schaute mich vielsagend an und prostet mir dann zu: "Doch, wirst du. Wir bauen nämlich gleich zwei! Erst meine, dann deine... du brauchst nur noch einen passenden Motor!"
Der Abend mit Bob wird noch sehr lang. Die Stunden verfliegen unbemerkt, während wir planen, rechnen, diskutieren...
Als ich weit nach Mitternacht im Bett liege, kann ich nicht einschlafen: ständig kreisen meine Gedanken um die Baby Bullet. In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht damit gerechnet, jemals so ein Boot zu besitzen. Ein Profi-Racer der Oberliga - traumhaft schön und unerschwinglich zugleich. Nach einer unruhigen Nacht folgt eine gedankenverlorene Arbeitswoche.
Am nächsten Samstag stehe ich bereits um halb acht in der Frühe vor Bob's Werkstatt...