Kapitel 3: Eine ganz spezielle Bauweise
Chad ist bester Laune, winkt mir zu, "Hey Buddy - how are you?" und legt fröhlich pfeifend ein paar zugeschnittene Holzteile auf eine Palette, auf der sich bereits ein gutes Dutzend anderer Teile stapeln. "Komm, hilf' mir mal... dann kann ich dir gleich zeigen, wie wir das Baby aufbauen werden." Ich staune nicht schlecht: Bob hat in den letzten Tagen bereits alle Spanten, den Steven und sämtliche Aussteifungen zugeschnitten. In der Werkstattecke stapeln sich die Birnbaumleisten, auf der Werkbank steht ein großer Eimer Weißleim und zwei 1-Gallon-Kanister "Great Lakes Spar" - ein hervorragender Bootslack. Wir können also direkt loslegen.
Aber zuerst schaffen wir mal Platz für die Helling - überall liegen Teile herum, die wir auf einer Palette stapeln. Man kann sich kaum noch bewegen. "Willst du dir deine Jacke nicht ausziehen?" fragt Chad. "Erst, wenn der Ofen hochgelaufen ist," antworte ich, "du hast hier ja sibirische Temperaturen. Wie hältst du das bloss in deinem dünnen Hemd aus?" - "Ich arbeite!" lacht Chad.
Die Baby Bullet ist ein reines Marathonboot, konstruiert für harten Rauwassereinsatz und hohen Wellengang. Das Auffällige ist ihre ebenso einfache wie äusserst stabile Konstruktion: nur zwei Frames und ein Transom. Viel weniger Stringer als vergleichbare Rennboote, sattdessen eine ungewöhnlich dicke Beplankung. Auf dem Cockpitboden verlaufen zwei sehr massive Diagonalaussteifungen. Der Transom ist ebenfalls außergewöhnlich markant: das Motorbord ist nicht - wie bei allen anderen Utilities üblich - ein Teil des Heckspants, sondern separat im mehrteiligen Heckspiegel eingezogen.
Chad ist ein sehr erfahrener Bootsbauer, der in langer Praxis eine ganz spezielle Bauweise entwickelt hat. Bevor er zu bauen beginnt, plant er das Boot bis ins Detail durch, inklusive dem gesamten technischen Ausbau. "Das bedeutet zwar am Anfang etwas mehr Arbeit", erklärt er, "aber dafür geht der eigentliche Bau umso zügiger und koordinierter von der Hand. Normalerweise beginnen die echten Probleme ja erst dann, wenn der Rohbau bereits fertig ist. Dann merkst du, was du alles vergessen hast und fängst an zu improvisieren. Das passiert uns hier nicht."
Normalerweise würde man damit beginnen, ein Bootsgerippe aus rohen Spanten und Stringern aufzubauen. Chad bereitet dagegen direkt ganze Baugruppen vor. Sie enthalten bereits alle Details, die erst viel später benötigt werden. "Wenn du das schon vorher machst, kommst du viel besser dran - und du weisst, das hinterher alles passen wird." Alle Teile sind miteinander verzahnt und zusätzlich mit Paßdübeln verleimt. Als Sperrholz kommt durchweg vielschichtiges "High grade Marine Plywood" zum Einsatz. So ganz verstehe ich noch nicht, welche Funktion die verschiedenen Aussparungen und Verzapfungen haben werden. Chad grinst mich an: "Komm, ich zeig's dir!"
"Fangen wir hinten an, beim Transom. Der ist aus 21 Teilen zusammen gesetzt. Die Querstrebe vor dem Motorboard wird erst später rausgesägt, auf der Helling. Die brauchte ich, um den Transom völlig verzugsfrei aufzubauen."
"Die Vorderseite des Transoms: das Motorboard habe ich geschlitzt, da drin wird der Kiel verzapft. Das ist besser, als ihn stumpf anzusetzen, weil wir dadurch den heftigen Schub des Mark 20-H gleichmässig in die gesamte Tragstruktur eingeleitet kriegen. Links und rechts vom Motorboard haben wir zwei kleine Auflagen für das Kneelingboard, damit es nicht kippelt. Es wird aber hauptsächlich vom Kiel und den beiden Diagonalstreben getragen." Ich unterbreche ihn: "Die beiden Notches an der Oberseite liegen nicht übereinander!" - "Das ist richtig - da kommen die Längsholme ja auch nicht rechtwinklig am Spant an, sondern schräg. Die Notches müssen wir dann noch entsprechend schräg schleifen - aber das machen wir später, wenn wir den genauen Winkel kennen."

"Hier haben wir die Rückseite von Spant #2 - also die vordere Begrenzung des Cockpits. In die beiden Notches links und rechts kommt die Halterung für die Rollenblöcke. Die beiden Steuerseil-Durchführungen sind auch schon drin - schräg gefräst, im richtigen Winkel. Damit das Seil auch wirklich auf der Seiltrommel landet." Ich staune nicht schlecht: selbst der Kill Switch ist schon eingebaut, diesmal
unterhalb der Steuerseile. Das macht Sinn, denke ich mir. Bei meiner Atomite geraten Kabel und Steuerseile öfter durcheinander, das kann hier nicht passieren.
"Auf der Vorderseite des Spants haben wir eine verbreiterte Decksauflage. Die brauchen wir für die Luke des vorderen Cockpits. Darin nochmal die beiden schrägen Seilführungen. Und eine Verstärkung für den Kill Switch - den reisst keiner raus!" lacht Chad. "Unten wieder zwei Auflagen, die sind für das Technikboard." Für das
was? Aber während ich noch grübele, hat Chad bereits den nächsten Spant auf die Hobelbank gelegt:
"Keine Besonderheiten. Der Spant ist bereits dicht gemacht mit einer Zwischenlage aus 1mm Sperrholz, genau wie der Cockpitspant. Und auf der Vorderseite..."
"... haben wir nochmal eine Aufdoppelung für den Rumpfboden. Da stossen zwei Beplankungsteile zusammen, darum möchte ich an der Stelle ein bisschen mehr Auflagefläche haben. Komm, lass' uns mal alles wieder in die Ecke räumen, dann haben wir Platz für den Kiel."
Wir wuchten einen schweren Balken auf die Hobelbank. Besser gesagt: eine mehrteilige Konstruktion, die so garnicht nach einer normalen Kielleiste aussieht. Überall Notches, Winkel, Rastnasen... was hat er denn da wieder konstruiert?
"Das wirst du verstehen, sobald wir ihn einbauen... das ist momentan ein bisschen kompliziert zu erklären. Kurz gesagt: der Kiel fixiert sämtliche Teile, die ihn irgendwie berühren, in eindeutiger Position. Er hat "Rastungen" für den Steven, die beiden Floorboards und das Motorboard, die Verstärkung für die Turnfin, Anschläge für das Steeringboard und für die Spanten, die unterschiedlich tief genotcht sind. Aber egal - das ist alles selbsterklärend, wenn wir ihn einbauen."
Ich muss gestehen: momentan verstehe ich diesen Kiel wirklich noch nicht. Aber Chad wird schon wissen, was er tut.
"Der Steven - mit Aussparungen für den Breasthook, den Chinelog und einer Verzapfung für den Kiel." Chad haut mir ein Fachvokabular um die Ohren, dass mir der Kopf raucht. Offenbar interpretiert er meinen verständnislosen Blick richtig, denn er lacht kurz auf und sagt: "Alles halb so wild - mach dir keinen Kopf. Wichtig am Steven ist, dass er Kiel, Spant 1 und Helling kraftschlüssig miteinander verbindet. Dadurch sind die Spanten in allen drei Raumachsen eindeutig fixiert und können nicht ausweichen - ein Verzug des Gerippes ist schlichtweg unmöglich." Ich schaue meinen Freund an: "Ehrlich gesagt: ich verstehe nur die Hälfte. Aber es klingt zumindest ziemlich vielversprechend. Du sagst mir einfach, was ich tun soll - und ich glaube dir einfach, dass es das Richtige ist."
"Komm", ermuntert mich Chad, "hier haben wir etwas Einfacheres: ..."
"... das Floorboard. Ich hoffe, die Toe Holes passen zu deiner Schuhgrösse." Na, damit kann ich was anfangen. Mein zukünftiger Arbeitsplatz, sehr gut.
"Und was, bitte, ist das hier?" frage ich Chad. Eine äusserst merkwürdige Platte. So etwas habe ich noch nie in einem Boot gesehen. "Das ist das Technikboard. Und oben drauf die Servohalterung mit Kabeldurchführungen."
Irritiert blicke ich zu Chad hoch: "Servohalterung? Technikboard? ... was?" Chad grinst mich an: "Das erklär' ich dir später".
Na ok - ich lerne ja noch. Chad hat auf jeden Fall gute Vorarbeit geleistet. Ich stecke mir eine Luckies in den Mundwinkel: "Dann können wir jetzt also direkt mit der Helling beginnen?" - "Wir können beginnen, ja." Aber Chad beginnt
garnichts, ohne vorher nochmal einen genauen Blick in den Plan geworfen zu haben.
"Ok, dann lass' uns starten. Aber vorher... hey, wir haben ja schon halb zehn! Zeit für ein Bud." Er öffnet die Küchentür und verschwindet im Nebenraum. Das ist das Tolle an Chad's Werkstatt: der Kühlschrank ist nur ein paar Schritte entfernt. Kurz darauf kommt er mit zwei wohlbekannten Dosen zurück: "Also dann: Prost - auf dein neues Boot!"